Oleg Igorjin, Russland, St. Petersburg

Der Osterflug der kleinen Amsel

© Illustration von Daniel Breininger, Aachen 

Es war einmal ein guter, netter Junge. Er war eine Waise und lebte bei seiner alten Großmutter. Sie war auch eine gute, nette Frau, sie sagte zu jeder Zeit die Wahrheit, sie bereicherte sich niemals auf Kosten anderer, und sie tat den Menschen niemals Schlechtes an. Sie war einfach eine gute Großmutter. Der Junge und seine Großmutter waren sehr arm, nicht einmal genug zu essen hatten die beiden.

Am Samstag vor Ostern saß der Junge am Fenster und blickte nach draußen. Endlich brach nach dem kalten, weißen Winter der warme und fröhliche Frühling an. Plötzlich schwebte eine kleine Amsel herbei, die der Junge den ganzen harten und kargen Winter hindurch immer wieder gefüttert hatte. Das Vögelchen landete auf dem Sims des Fensters und trippelte fröhlich darüber. Es hatte sich daran gewöhnt, von dem Jungen etwas zu essen zu bekommen.
"Siiii-siii", sang melodisch die kleine Amsel.

Der Junge freute sich, sie zu sehen. Er sammelte die letzten Brotkrümel vom Tisch, öffnete das Fenster und legte sie auf den Sims. Die kleine Amsel pickte sie auf, und ihre kleinen, schwarz glänzenden Augen blickten den Jungen voller Dankbarkeit an.
"Mehr habe ich nicht für dich", sagte der Junge, als die Amsel alle Krümel gegessen hatte, und seufzte leise. "Obwohl morgen ein großer Feiertag ist, haben wir kein Essen mehr im Haus..."
Die kleine Amsel sah ihn an und zwitscherte, als ob sie ihm etwas in ihrer Vogelsprache sagen wollte. Der Junge lächelte und sie flog weg.
Als der Junge sich umdrehte, stand seine Oma vor ihm.
"Sei nicht traurig, mein Kind", tröstete sie ihn, "der Herr wird es schon richten."

Das hatte die kleine Amsel nicht mehr gehört. Satt und fröhlich flog sie durch die Lüfte und dachte, dass der Junge und seine Oma freundliche Menschen seien.
"Als ich es im Winter schwer hatte und Hunger litt, hat der Junge mir geholfen", überlegte sie und traf eine Entscheidung. "Jetzt muss ich ihm und seiner Großmutter helfen!"
Sie flog geschwind zu ihrer Freundin, der Henne.
"Hallo, Schwester Henne!"
"Hallo, Schwester Amsel!"
"Schwester Henne, ich brauche bitte ein paar Eier", bat die Amsel.
"Was willst du denn mit ihnen, Schwester Amsel, du kannst sie doch nicht essen."
"Der gute Junge und seine alte Großmutter, die mich den ganzen Winter hindurch gefüttert haben, haben selbst nicht einmal am heiligen Osterfest etwas zu essen", erklärte die Amsel ihre Bitte.
"Schwester Amsel, für diese beiden nimm so viele Eier, wie du willst", erwiderte die Henne. Aber sie wurde gleich traurig. "Aber ich habe nur weiße Eier und keine Farben, um sie bunt anzumalen."
"Was mache ich denn bloß?", erwiderte die Amsel traurig.
Sie dachten über eine Lösung dieses Problems nach. Der stolze Hahn, mit dem die Henne verheiratet war, sah das und kam zu ihnen.
"Kikeriki!", grüßte er sie laut und schwenkte dabei seine prächtigen Flügel und klickte mit seinen zackigen Spornen. "Worüber grübelt ihr nach, Schwestern?" "Ach, die kleine Amsel braucht dringend Farben, um die Eier bunt zu färben, aber wir haben keine Ahnung, woher wir sie nehmen sollen", antwortete die Henne.
"Das ist doch ganz einfach!", meinte der Hahn. "Der Regenbogen hat sämtliche Farben. Für mein Schwanzgefieder habe ich sie mir von ihm besorgt", ergänzte er und stolzierte erhaben vor den beiden hin und her, um ihnen seine vielfarbigen Federn zu präsentieren.
"Richtig", freute sich die Henne. Ihr eigenes Schwanzgefieder war nicht so prächtig. Deshalb hatte sie keine Vorstellung davon, wie man zu so schönen Farben, wie ihr Mann sie trug, kommen könnte. "Also dann, flieg zum Regenbogen, Schwester Amsel."
"Das tue ich gleich!", erwiderte die Amsel fröhlich und machte sich auf den Weg.
Sie musste sehr weit fliegen, aber dann sah sie ihn endlich.
"Hallo, Regenbogen!", rief sie schon von weitem.
"Hallo, Amsel!"
"Ich brauche deine Hilfe, Regenbogen! Würdest du mir bitte ein paar Farben geben, damit ich die Eier bunt färben kann, die mir Schwester Henne für den guten Jungen und seine Großmutter gegeben hat? Sie haben mich den ganzen Winter hindurch gefüttert, und jetzt haben sie selbst nichts zu essen, und das am heiligen Osterfest!"
"Oh nein!", antwortete der Regenbogen bestürzt. "Ich würde dir sehr gern Farben für den guten Jungen und seine Großmutter geben, aber im Moment habe ich keine. Im Sommer, wenn es Regen und viele Blumen gibt, habe ich jede Menge Farben. Aber jetzt ist der Winter gerade erst vorbei..."
Die kleine Amsel sah bekümmert aus.
"Was mache ich jetzt bloß?", rätselte sie.
"Frag doch die Frühlingssonne und den hohen Himmel, die dunkle Nacht und den hellen Mond, das seidene Gras und das kühle Wasser. Und vergiss das heiße Feuer nicht", rief ihr der Regenbogen nach. "Sie werden dir bestimmt helfen."
"Danke, lieber Regenbogen", bedankte sich die kleine Amsel und flog weiter.
Sie musste sich beeilen, denn viel Zeit blieb ihr nicht mehr: der Tag neigte sich seinem Ende zu.
Zuerst erreichte sie den Fluss. Sie ließ sich auf einen glatten Kieselstein an seinem Ufer nieder.
"Guten Tag, kühles Wasser!"
"Guten Tag, kleine Amsel!"
"Der gute Junge und seine Großmutter, die mir den ganzen Winter hindurch immer ihre letzten Krümel gegeben haben, haben jetzt selbst nicht einmal am heiligen Osterfest etwas zu essen!", berichtete die Amsel dem Wasser. "Schwester Henne gibt mir Eier für sie, aber ich habe nichts, um sie bunt anzumalen. Hilf mir, gib mir etwas Farbe."
"Ich kenne den guten Jungen und seine alte Großmutter", murmelte das Wasser. "Natürlich helfe ich dir! Hier hast du ein schönes Hellblau."
"Danke schön, kühles Wasser!", erwiderte die Amsel und flog weiter.
Gleich in der Nähe des Flusses erblickte sie junge Grashalme, die soeben aus der dunklen Erde hervor gesprossen waren. Die kleine Amsel segelte zu ihnen hinunter.
"Guten Abend, seidenes  Gras!"
"Guten Abend, kleine Amsel!"
"Hilf mir, liebes Gras", bat die kleine Amsel. "Gib mir etwas Farbe, damit ich die Eier bunt färben kann, die Schwester Henne mir für den guten Jungen und seine Großmutter geschenkt hat. Die beiden haben mir während des harten Winters zu essen gegeben und jetzt haben sie selbst nichts zu essen, und morgen ist Ostern!"
"Aber natürlich!", antwortete das Gras sofort. "Wie wäre es denn mit einem schönen saftigen Grün für den guten Jungen und seine Großmutter?"
"Habe vielen Dank, seidenglänzendes Gras!"
Die kleine Amsel machte sich wieder auf den Weg. Aber der Tag war zu Ende und die kleine Amsel konnte fast nichts mehr sehen. Sie ließ sich auf dem Ast des nächsten Baumes nieder.
"Hallo, dunkle Nacht!", rief sie in die Finsternis.
"Hallo, kleine Amsel!", antwortete die Nacht.
"Ich brauche deine Hilfe, dunkle Nacht. Es gibt da einen guten Jungen und seine alte Großmutter, die haben mir im Winter zu essen gegeben und jetzt, wo es gleich Ostern ist, haben sie selbst gar nichts! Die Henne hat mir für sie Eier gegeben, aber ich habe nichts, um sie zu färben", erzählte die kleine Amsel von ihrer Sorge.
"Dem guten Jungen und seiner Oma helfe ich natürlich!", wisperte die Nacht. "Findest du mein dunkles Violett schön? Dann nimm es!"
"Danke, du dunkle Nacht!", rief die kleine Amsel erfreut und wollte gleich weiterfliegen.
Dann dachte sie daran, dass etwas Helligkeit für die weitere Suche günstig wäre. Und da sie den Mond ohnehin um Hilfe bitten wollte, beschloss sie zu warten, bis er aufging.
"Hoffentlich verschlafe ich sein Erscheinen nicht", murmelte sie.
Sie schloss ihre kleinen Augen und schlief ein. Aber nur ganz kurz, denn der kühle Nachtwind weckte sie bald mit einem sanften Wehen.
Es war immer noch Nacht und die kleine Amsel schloss beinahe wieder die Augen, aber dann sah sie den Mond und wurde wieder munter.
"Eine fröhliche Nacht wünsche ich dir, strahlender Mond!"
" Ich dir auch, kleine Amsel!"
"Morgen ist Ostern, lieber Mond, und der gute Junge und seine Großmutter haben nichts zu essen! Dabei haben sie mich im Winter immer gefüttert. Von Schwester Henne habe ich Eier für die beiden, aber mir fehlen Farben, um sie schön bunt zu bemalen. Kannst du mir helfen?"
"Aber ja!", antwortete der Mond. "Für den guten Jungen und seine Oma gebe ich dir mein bestes Gelb, wie wäre das?"
"Danke schön, lieber Mond! Jetzt bin ich fast fertig! Hoffentlich schaffe ich es noch!"
"Ich helfe gern", lächelte der Mond.
Er fing an, noch kräftiger zu leuchten. Jetzt konnte die kleine Amsel viel besser sehen, und so stieg sie in den sich aufhellenden Himmel hinauf.
"Guten Morgen, hoher Himmel!"
"Guten Morgen, kleine Amsel!", antwortete der Himmel.
"Der Mond hat mir erzählt, was du vorhast. Ich möchte dir für den guten Jungen und seine Großmutter ein herrlich dunkles Blau geben!"
"Danke, hoher Himmel", freute sich die kleine Amsel.
Der Mond half noch mehr und beeilte sich auf seinem Weg zwischen den Sternen, und so dämmerte bald der Morgen. Freudig singend flog die kleine Amsel zwischen den Wolken hindurch und begrüßte so den anbrechenden Tag. Dann endlich stieg die Sonne, noch leicht vom Schlaf benommen, langsam über den Horizont.
"Einen guten Morgen, Frühlingssonne", sang die kleine Amsel.
"Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Vögelchen!", grüßte die Sonne zurück.
"Hilfst du mir bitte?", fragte die kleine Amsel. "Damit ein guter Junge und seine Oma, die mir im Winter immer zu essen gegeben haben, zu Ostern nicht hungern müssen, hat Schwester Henne mir Eier für sie gegeben. Aber ich habe keine Farben, um sie für diesen Tag schön bunt zu färben."
"Ich wollte für die beiden heute ohnehin besonders kräftig scheinen", antwortete die Sonne, "und ich möchte dir für die Eier außerdem noch das beste Rot des Universums geben."
"Ich danke dir, Frühlingssonne!"
Die kleine Amsel musste sich jetzt wirklich beeilen, aber sie wusste nicht, wo sie das Feuer finden könnte. Dann kam ihr die Idee, zur Kirche zu fliegen.
Und tatsächlich, kaum flog sie durch ein offen stehendes Fenster in die Kathedrale, da erblickte sie auch schon ein helles Feuer vor der Ikone der Gottesmutter.
"Hallo, heißes Feuer!"
"Hallo, kleine Amsel!"
"Ich brauche deine Hilfe, liebes Feuer", bat die kleine Amsel. "Ein guter Junge und seine Oma haben mich im Winter gefüttert, aber zu Ostern haben sie selbst nichts mehr zu essen im Haus. Von Schwester Henne habe ich Eier für sie bekommen, aber mir fehlen Farben, damit ich sie richtig schön bunt anmalen kann."
"Ich hoffe", sprach das erfreut züngelnde Feuer, "dass sie heute hierher kommen, sodass ich sie wärmen kann. Bis dahin gebe ich dir für sie mein feurigstes Orange."
"Danke dir, heißes Feuer!"

Nun hatte die kleine Amsel die schönsten Farben der Welt zusammen, und in ihrem Glanz erstrahlten die Eier von Schwester Henne wie wunderschöne Edelsteine.

Die Gottesmutter hatte die Unterhaltung der kleinen Amsel mit dem Feuer gehört und beschloss ebenfalls, dem guten Jungen und seiner freundlichen alten Oma ein Geschenk zu machen. Als der Ostermorgen anbrach, lagen auf dem Tisch in der Küche die Eier von Schwester Henne. Eines war so rot wie die Frühlingssonne, das andere so freudig orange wie ein heißes Feuer. Eins hatte das dunkle Blau des unendlichen Himmels und das andere das Helle des klaren Wassers. Das gelbe war so erhaben wie der uralte Mond, das grüne so seidenglänzend wie das Wiesengras und das violette so geheimnisvoll wie die Nacht.
Und neben die Eier hatte die Mutter Gottes ein großes Osterbrot gelegt, mit einer herzhaft braunen Kruste und einer wolkenweißen Glasurschicht, die mit köstlichen Rosinen gespickt war.

Die freudigen Strahlen der Frühlingssonne erhellten das Haus, spielten wie springende fröhliche Punkte an der Wand und weckten sanft den Jungen.
Er blinzelte, dann sah er die Ostergeschenke auf dem Tisch. Seine Verwunderung mischte sich mit großer Freude.
"Großmutter, schau mal", rief er aufgeregt.
Die Großmutter staunte und freute sich nicht weniger als er. Sie traute ihren Augen nicht und suchte nach ihrer Brille.
"Wo ist sie denn bloß?", murmelte sie verwirrt.
Der Junge sprang aus dem Bett und brauchte nur einen Augenblick, um die Brille zu finden, die sich immerzu vor seiner Großmutter zu verstecken schien.
"Hier ist sie, Oma!", rief er und reichte sie ihr.

Die Großmutter setzte die Brille auf und besah eingehend die Geschenke. So etwas hatte sie in ihrem langen und harten Leben noch nie erlebt. Sie sank auf den Stuhl, stützte ihren Kopf mit dem Arm auf den Tisch und dachte nach. Die Brille rutschte ihr von der Nase, aber sie schob sie zurück, und die Brille rührte sich nicht mehr auch nur einen Deut von der Stelle.
Dann lächelte die Oma ihren Enkel an.
"Es ist wahr", sagte sie leise und feierlich. "Gott vergisst anständige Menschen niemals."
Der Junge lächelte zurück und genoss zusammen mit seiner Großmutter das unerwartete Glück, das ihnen an diesem Osterfest widerfahren war.

Draußen vor dem Fenster hüpfte und zwitscherte fröhlich die kleine Amsel. Die Freude des Jungen und seiner Oma machte auch sie glücklich, weil den beiden ihre Güte endlich vergolten worden war.

Wer Gutes tut, hat Freude am Leben und kann immer lächeln.

 

 

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